Trilok Gurtu – Crazy Saints – Live
Auf dem 1993 erschienenen Studioalbum „Crazy Saints“ dominierten neben Trilok Gurtu vor allem Pat Metheny und Joe Zawinul. Um dieses Album zu unterstützen, war Trilok Gurtu mit seinem Trio im selben Jahr auf Tournee. Im Rahmen dieser Konzertreihe gastierte Trilok Gurtu’s Crazy Saints-Trio mit Daniel Goyone an den Keyboards und Chris Minh Doky am Bass am 29.11.1993 in Bremen.
Bevor Trilok sich ab 1996 allmählich immer mehr der „Weltmusik“ zuwandte, war er 1993 noch tief verwurzelt im Jazz . Die Verbindung von indischen Rhythmen mit den Elementen des modernen Jazz führte zu ungewöhnlichen Hörerlebnissen, eindrucksvoll auf der hier vorliegenden Konzertaufnahme zu erleben. Trilok Gurtu’s unnachahmliche Grooves, präzise, virtuos und druckvoll, harmonieren mit breiten Texturen, Klangstrukturen fernab sirrender Indo-Esoterik.
Brücken, keine Barrieren, und der Bombay Groove
An afroamerican jazz musician after Coltrane
Sein Debütalbum „Usfret“ von 1987/88 dokumentiert einen besonders glücklichen Moment im Schaffen Trilok Gurtus. Er widmete sein erstes Werk „meiner Mutter Shobha Gurtu, meinem Lehrer Ahmed Jan Thirakwa, John Coltrane und Thelonious Monk.“ Das Kornett von Don Cherry und die Violine von L. Shankar umtanzen Shobha Gurtus bewegenden Gesang, während ihr Sohn Trilok und der Bassist Jonas Hellborg die fantastische Rhythmusgruppe bilden. Noch immer ist es faszinierend zu hören, wie Trilok die rhythmischen Raffinessen der indischen Musik auf sein selbstkonstruiertes Drumset übertrug. Wie er seine Mitspieler anfeuerte und beflügelte – durch sein Können und seine Präzision, durch Spielfreude, Toleranz und große Freiheit im Ausdruck: er war und ist der Spielmacher, der Motor der Musik, der Fackelträger.
Dass sein Jazz-Guru Don Cherry damals zu Triloks Dreamband gestoßen war, muss ihn besonders gefreut haben; kaum ein afroamerikanischer Jazzmusiker nach Coltrane war so sehr Kosmopolit und pflegte eine so innige Beziehung zu Indien, wie überhaupt zu außereuropäischen Musikkulturen. Don Cherry kannte die Schriften des Sufi-Mystikers und Musikers Hazrat Inayat Khan, der so inspirierend für viele Jazzmusiker nach Coltrane über die Gesetze (und Geheimnisse) von Klang und Rhythmus geschrieben hat: über den Atem und das innere Hören, über die psychologischen Einflüsse von Musik und über die Wirkung von Klang auf den menschlichen Körper. Im Titelstück aus “Usfret“ ließ Trilok Gurtu all das aufleuchten und Funken schlagen, was er in den Jahren davor an Wissen und Können absorbiert hatte: von der Zeit ab, als er am Hamburger Hauptbahnhof „gestrandet“ war. Zu Deutschland hat er eine besondere Beziehung, aber Trilok Gurtu war immer schon und nicht nur musikalisch ein Kosmopolit, ein Weltbürger neuer Prägung für den Jazz. Schon damals wirkte der französische Keyboarder Daniel Goyone mit, der auch beim jetzt veröffentlichten Konzertmitschnitt von 1993 aus Bremen mit Trilok Gurtu’s Crazy Saints zu hören ist. Erstaunlich, wie frisch diese Musik von damals immer noch klingt. Es war auch das Jahr, als Trilok mit der amerikanischen Gruppe Oregon in Ludwigsburg für ECM das Album „Ecotopia“ aufnahm. Der Oregon Gitarrist und – Mitgründer Ralph Towner ist bei einigen allzu seltenen Passagen auf „Usfret“ zu hören. Zwei inspirierte Sessions mit dem indischen Perkussionisten lagen schon einige Jahre zurück: „Three Day Moon“, eine atmosphärische Platte .des Bassisten Barre Phillips (mit dem Gitarristen Terje Rypdal, Oslo 1978) und das geradezu als Kultalbum gefeierte „Song for Everyone“ (Oslo 1984, beide ebenfalls für ECM) mit der Traumbesetzung aus Shankar (Violine), Jan Garbarek (Saxofone), Trilok Gurtu sowie dem Tablavirtuosen Zakir Hussain. In einer knappen Dekade fügte Trilok seiner bis dahin spärlichen Diskographie diese Highlights hinzu.
Nun also wollte Trilok Gurtu seine eigenen Alben realisieren und fand bei Walter Quintus und dem CMP-Labelbesitzer und Produzenten Kurt Renker in der Eifel viel Unterstützung für seine Vision einer zeitgenössischen Indo-Jazz-Fusion, basierend auf einem uralten Wissen über die Geheimnisse der Polyrhythmik. John McLaughlins bahnbrechende Gruppe Shakti (mit dem Geiger Shankar und Zakir Hussain an den Tablas) hatte ab 1975 verblüffende neue Perspektiven in dieser Richtung aufgezeigt. Trilok konnte also auf vielem aufbauen, was er und andere über Jahre entwickelt hatten. Dass er auch ein großer Fan von Weather Report und elektronischen Sounds gegenüber sehr aufgeschlossen war, zeigte bereits die erste CMP-Platte. Im November 1989 war Trilok Gurtu an einem musikalischen Großereignis beteiligt: dem unvergesslichen Konzert des John McLaughlin Trios in der Royal Festival Hall in London, das im Jahr darauf bei JMT herauskam. Seine Interaktionen mit McLaughlin waren schier atemberaubend, das wunderbare Zusammenspiel mit dem Bassisten Kai Eckhardt macht die Platte zu einem absoluten Meilenstein. Ich konnte McLaughlin bei einem langen Gespräch in Monaco noch Jahre später anmerken, dass er die Wunderkräfte dieses Percussion-Magiers keineswegs vergessen hatte.
Die Musik auf Triloks nächstem Soloalbum „Living Magic“ (1990/91) war mitgeprägt vom einfühlsamen Saxofonspiel Jan Garbareks, mit dem der inzwischen weltweit renommierte Perkussionist bis heute unzählige Konzerte gegeben hat; mit keinem anderen großen Jazzmusiker ist sein Schaffen so eng verbunden wie mit dem des Norwegers Garbarek. Den Hauptanteil der Musik auf „Living Magic“ gestaltete er jedoch mit Daniel Goyone und dem brasilianischen Perkussionisten Nana Vasconcelos, der seinerzeit ebenfalls zum engsten Kreis um Garbarek gehörte. Das fabelhafte „Once I walked a tree upside down…“ aus „Living Magic“ ist eine seiner magischsten Studioexkursionen: Die pure Freude, mit der sich Garbareks Sopransaxofon durch den Zauberwald der von Trilok und Nana erzeugten Rhythmen schlängelt, sagt mehr als viele Worte. Es wäre der perfekte Soundtrack für Mario de Andrades Roman „Macunaíma“. Später zollte Trilok einem anderen brasilianischen Percussion-Ass seinen Tribut, dem aus Bahia stammenden Carlinhos Brown. Die beiden Kompositionen „Baba“ und „Tac et demi“, die jetzt in spannenden Live-Versionen des Bremer Konzertes vorliegen, stammen ursprünglich aus „Living Magic“. Für die dritte CMP-Produktion konnte Trilok Gurtu mit Joe Zawinul duettieren und Pat Methenys Gitarre begleitete den Gesang Shohba Gurtus in „Manini“. Wenig später hatte er den Kern seiner Gruppe Crazy Saints, der „verrückten Heiligen“ zusammengetrommelt: Daniel Goyone (Keyboards) und Chris Minh Doky (Bass), verstärkt durch den amerikanischen Gitarristen David Gilmore.
Ungefähr um diese Zeit konnte ich die drei erleben, und zwar schon bei den Vorbereitungen zum Konzert, als sie ihre Instrumente auspackten und sich einzuspielen begannen. Was mich auf Anhieb beeindruckte war das ‚high musicianship‘. Allein schon der Soundcheck klang wirklich aufregend und ließ erahnen, was Trilok mit seiner Band anpeilte und im Bremer Konzert erreichte. Es wurde klar, dass er seinen engsten Mitspieler Daniel Goyone immer mehr aus der Reserve gelockt hatte – das zeigt auch deutlich die nachfolgende Studioaufnahme „Believe“ (Juli 1994). „VAK“ aus Goyones Feder, der Opener in Bremen, tauchte ein halbes Jahr später in verknappter Form auf dem Studioalbum auf. Im selben Jahr wurde Trilok Gurtu von den Kritikern des US-Magazins Down Beat zum Perkussionisten des Jahres gewählt – das war der Ritterschlag. Das erstaunlichste Stück auf „Believe“ kommt gegen Ende: in „Protector“ scheint er als Ein-Mann-Orchester und Pfadfinder eine Gruppe von Pygmäen durch eine Szenerie wie aus ‚Bladerunner‘ zu lotsen. Music for body and soul. Im Juni 1995 entstand Jan Garbareks imposantes Album „Visible World“ unter Triloks maßgeblicher Mitwirkung. Mit der CD „Bad Habits Die Hard“ präsentierte er eine neue – um Bill Evans (Saxofone), Andy Emler (Keyboards) und Mark Feldman (Violine) erweiterte – Version seiner “verrückten Heiligen“ (mit Van Doky und Gilmore, ohne Goyone), in einer Konzertfassung aus dem Kölner Stadtgarten vom Oktober 1995.
Eine Produktion mit acht Musikern beschloss Trilok Gurtus CMP Records-Ära: die atmosphärische Tonspur zu seinem leisesten, vielleicht nach „Usfret“ geglücktestem CMP-Album „The Glimpse“. Inzwischen hatte er ein britisches Management und seine Aktivitäten mehr auf Großbritannien konzentriert, wo seine Musik – zum Beispiel bei der Asian Dub-Fraktion – auf enormes Interesse stieß. Von den ersten Takten an war der Sound deutlich stärker ethnisch, stellenweise sogar kammermusikalisch geprägt. Der Bandleader der Crazy Saints hatte sich fortbewegt vom Weather Report-beeinflussten Jazz-Rock. Wie so oft griff er auch hier wieder – ohne das inzwischen Erlebte und Erfahrene beiseite zu schieben – die Fäden neu auf, die er Jahre zuvor gesponnen hatte. Ein Kreis über fast zehn Jahre schloss sich und der Percussion-Magier erinnerte sich an Klänge, Farben, Gesichter, Stimmen und inszenierte ein neues Ritual.
Plötzlich waren sie wieder da, die Trompete wie auf „Usfret“ (diesmal gespielt von Paolo Fresu aus Sardinien) und der indische Gesang (von Geetha Bennett). „The Glimpse“ ist Ritual und Requiem zugleich: vom Opener „Cherry Town“ bis zum Finale „Don“. Es gibt Hinweise auf eine Rückkehr zu den Anfängen, halb versteckt in dem kleinen Satz an den großen Freund und Guru, der knapp ein Jahr zuvor in Malaga verstorben war: „Don, this record is for you.“ Wie durch einen dunklen Tunnel der Erinnerung gelangend beginnt die Musik neu zu tanzen und zu fliegen. Der Verführungskünstler Trilok wirbelt sie hoch, die Materie reibend wie ein Nomade, der in der Wüste ein Feuer entfacht, um bei Sonnenuntergang um die züngelnden Flammen zu wirbeln wie ein tanzender Derwisch.
Neue Abenteuer lagen noch vor ihm. Als er 2005 in Mali mit der Frikyiwa Family das erstaunliche Album „Farakala“ aufnahm, das er seinem spirituellen Lehrer Ranjit Maharaj widmete, fügte er sich so harmonisch in dieses westafrikanische Ensemble ein, als wäre er in Mali groß geworden. Jemand bezeichnete das Leben einmal als eine Serie von verpassten Rendezvous. Was wäre zum Beispiel passiert, wenn Trilok mit Miles Davis zur Zeit der Enstehung des Albums „On the Corner“ gespielt hätte? Auf seinem fulminanten Album „Spellbound“ (2013) erfüllte er sich auch diesen Wunsch und spielte mit dem Trompeter Nils Petter Molvær ein tolles Medley aus „Jack Johnson/Black Satin“ – die Message von Miles aufgreifend. Auf anderen Tracks ist er mit weiteren Trompetern zu hören: Matthias Schriefl, Ibrahim Maalouf und Paolo Fresu. Es gibt einen Moment im Jazz, der über Tod und Vergänglichkeit triumphiert, es leuchtet weiter, wie das Olympische Feuer. Trilok Gurtu ist einer der großen Fackelträger dieser Musik.
Karl Lippegaus
(Autor von „Coltrane. Biografie, Edel Books, 2011)
…mehr Trilok Gurtu:
Tracklisting
CD 1 :
1. Chant D’Oiseau/VAK 13:36
2. Baba 10:48
3. Tillana 08:48
4. Blessings In Disguise 14:25
5. The Sequel/Living Magic 13:42
CD 1 complete: 61:19
CD 2 :
1. No Discrimination 04:41
2. Goose Bump/Bouches D’Or 14:10
3. Barcarolles No.8 & No.5 03:10
4. Danse Des Lamantins 07:02
5. Pascha’s Love 19:02
6. Tac Et Demi/Maracatu 09:41
CD 2 complete: 57:46