Agitation Free — eine Kurzbiographie
Agitation Free zählte in den frühen 70er Jahren zu den führenden Vertretern der deutschen experimentellen Rockmusik. Die Berliner Band entwickelte ab Ende 1967 lange, für diese Zeit ungewöhnlich freie instrumentale Improvisationen. In 1972 erlangten sie bereits Kult-Status mit einer eigenständigen Mischung aus improvisiertem Rock gepaart mit Elektro-, Ethno-, Jazz- und Trance-Elementen. Dabei experimentierte sie bei Konzerten mit Flüssigkeitsprojektoren, Dias und selbstgedrehten Experimentalfilmen analog zu kalifornischen und englischen Underground Bands.
Klangliche Kultiviertheit führte Agitation Free zu Kooperation mit Komponisten der Avantgardeszene wie John Cage, Erhard Großkopf, Peter Michael Hamel und Ladislav Kupkovič. Das von Agitation Free initiierte Electronic Beat Studio entwickelte sich unter der Leitung von Thomas Kessler zum Schaffenszentrum für Berliner Gruppen wie u.a. Ash Ra Tempel, Tangerine Dream und Anderen. Anfang 1970 traten Agitation Free beim “Ersten Deutschen Progressiven Popfestival” im Berliner Sportpalast auf.
Im April 1972 ging die Band mit Einladung des Goethe-Instituts auf Tournee durch Ägypten, Libanon, Zypern und Griechenland. Die vielfältigen Impressionen dieser Reise fanden ihren Niederschlag in dem ersten Album “Malesch” (Vertigo), einem faszinierendes Klanggewebe aus fremdartigen Original-Aufnahmen der Nahost-Reise und faszinierend exotischem Krautrock. Sie avancierten so zu unwiderlegbaren Vorreitern der heutigen Worldmusik.
Ständige Tourneen verschafften der Band in ganz Europa einen stetig ansteigenden Bekanntheitsgrad. Die Gruppe trat im Sommer 1972 im kulturellen Programm der Olympischen Spiele in München auf, tourte Anfang 1973 zwei Monate erstmalig durch Frankreich, trat im Mai beim “German Rock Super Concert” in Frankfurt auf und spielte unter anderem auch beim renommierten „Warschauer Herbst“ Festival. Die Band produzierte das zweite Album “2nd im Juli 1973.
Kontinuierliche Bandaufnahmen von Proben und Gruppendiskussionen veranlassten die Radiosender SFB und WDR ein experimentelles Hörspiel mit der Gruppe zu produzieren, ein höchst ungewöhnliches Unterfangen lange bevor “Reality Shows” allgemein populär wurden.
Der Stress der ständigen Tourneen steuerte die fünf musikalischen Individualisten in so unterschiedliche Richtungen, dass sich die Band 1974 auflöste.
Obwohl eine Reihe von posthumen Alben (mit Aufnahmen von 1972 bis 1974) nach dem Untergang der Band erschienen, und einem Studio-Album 1999 herauskam (“River of Return”), war es fast 35 Jahre nach der Trennung, dass die ursprüngliche Band wieder für Konzerte zusammen fand.
Im Februar 2007 gab die Band in der Originalbesetzung von 1974 eine Serie von Konzerten in Tokios “Shibuya O’West“. Anlass dieser Einladung war die Einweihung einer Wachsfigur des Keyboarder Michael Hoenig im „Tokyo Tower Wax Museum“. Ein Wachs-Ebenbild von Agitation Free-Gitarrist Lutz Graf-Ulbrich steht dort bereits seit mehreren Jahren. Die ausverkauften Reunion Konzerte waren ein umjubelter Erfolg. Alle drei Konzerte im “Shibuya O’West“ im Tokio Shibuya-Bezirk wurden als Mehrspur-Aufnahme mitgeschnitten. Michael Hoenig stellte die besten Versionen in der ursprünglichen musikalischen Abfolge der drei Konzerte zusammen. Das daraus resultierende Album “Shibuya Nights” ist ein grandioser Beweis dafür, dass Agitation Free immer noch als eine der besten und originellsten Bands unter vielen anderen illustren deutschen Zeitgenossen bleibt.
Die Stärke dieses Albums ist, dass viel von der Musik, teilweise vor vier Jahrzehnten uraufgeführt, nicht nur eine ausgezeichnete Erinnerung an den revolutionären, innovativen Geist jener Zeiten ist, sondern auch heute, neu eingespielt, in einem immer mehr homogenisierten musikalischen Umfeld unwiderstehlich zum Zuhören zwingt. So ist es nur folgerichtig, dass der Berliner Filmemacher Gerd Conradt diese Musik für seinen autobiografischen Film „Video-Vertov“ mit all seinen persönlichen, politischen und medialen Umwälzungen als Soundtrack nutzte.
Agitation Free, mit ihren am Anfang häufig wechselnden Musikern, war eine der wichtigen Bands der “Berliner Schule” und darüber hinaus Karriere-Sprungbrett für viele Musiker. Christopher Franke verhalf Tangerine Dream zu weltweiter Anerkennung. Axel Genrich wechselte zu Guru Guru. Frank Diez spielte u.a. mit Al Jarreau, Bobby McFerrin, Mercedes Sosa and Joan Baez und ist Professor for Jazzgitarre in Hamburg. Burghard Rausch wurde Gründungs-Mitglied bei Bel Ami, ist Schlagzeuger bei der “Krautrock-Supergroup“ Electric Family und machte Karriere als Musikjournalist/Moderator beim Radio und Fernsehen. Michael Günther wurde technischer Koordinator beim Berliner Jazzfest. Gustl Lütjens avancierte zu einem gefragten Studiomusiker, tourte unter anderem mit Shirley Bassey und Nena und fand später mit seiner New-Age-Band Living Mirrors vor allem in den USA ein großes Publikum. Michael Hoenig trat kurze Zeit mit Klaus Schulze und Tangerine Dream auf, ehe er mit seinem Soloalbum “Departure from the Northern Wasteland” weltweiten Erfolg hatte. Danach wurde er in Hollywood als Filmkomponist und Produzent für zeitgenössische Klassik bekannt. Er arbeitete u.a. mit so unterschiedlichen Künstlern wie Miles Davis, Phillip Glass, Morton Subotnick, Harold Budd und Jack Nitzsche. Lutz “Lüül” Ulbrich schloss sich Ashra an, arbeitete mit der Velvet Underground-Sängerin Nico, produzierte ausgezeichnete Soloplatten, komponierte Theatermusik, schrieb eine Autobiografie und feiert seit Ende der neunziger Jahre weltweite Erfolge mit den 17 Hippies.
“Shibuya Nights” war bislang nur in England und ansonsten im restlichen Europa als Import erhältlich. Anlässlich der Erstveröffentlichung spielte Agitation Free begeisternde Konzerte in Berlin, Paris, Manchester und London. Inzwischen wurde Bassist Michael „Fame“ Günther durch Daniel Cordes ersetzt. Jetzt wird dieses wunderbare Live-Dokument beim deutschen MIG-Label veröffentlicht. Zusätzlich zu der englischen Ausgabe wird dem Album eine Live-DVD beigelegt, die das Quintett in Bestform zeigt. Alle Titel stammen aus 2013 und wurden bei erfolgreichen Konzerten im Kesselhaus in Berlin und beim legendären “Burg Herzberg-Festival“ aufgenommen. Die DVD enthält sowohl Agitation Free-Klassiker, wie “Laila“ und “Rücksturz“, neuere Songs wie “Nomads“ und das Titelstück “Shibuay Nights“, als auch mit “In Da Jungl“ einen völlig neuen und bislang unveröffentlichten Titel.
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Tracklist Vinyl:
Side 1:
01. You Play For Us Today 06:12
02. Sahara City 02:48
03. In The Silence Of The Morning 06:22
04. Shibuya Nights 06:15
Side 1 total: 21:37
Side 2:
01. First Communication 06:25
02. Dialoge & Random 01:22
03. Ala Tul 06:15
04. Laila 07:38
Side 2 total: 21:40
Side 3:
01. Nomads 06:47
02. A Quit Walk 06:27
03. Das kleine Uhrwerk 04:48
04. Malesch 05:42
Side 3 total: 23:47
Side 4:
05. Drifting 03:54
06. Rücksturz 02:57
Bonustrack (Live, Burg Herzberg Festival,19.07.13)
07. In Da Jungle 06:54
Side 4 total: 13:45
LP Total: 81:00