Jeremy Steig & Eddie Gomez – Collectors Premium Jazz: Music For Flute & Double Bass/Rain Forest
Je kleiner ein Altersunterschied von zwei Jahren mit zunehmenden Alter erscheint, desto größer während der Kindheit und Jugend. So groß wie der Größenunterschied zwischen einer Flöte und einem Kontrabass. Dass ein Fünfzehnjähriger viel Zeit mit einem Dreizehnjährigen verbringt, gar mit ihm „spielt“ – nur bedingt vorstellbar. Es sei denn, sie spielen Musik. Während ihrer Zeit an der New Yorker Music & Art High School nutzen Jeremy und der zwei Jahre jüngere Eddie die Pausen, um zu improvisieren. Von den Lehrkräften dabei erwischt, bekommen Beide für ihren frevelhaften Ausflug in die Welt des Nicht-Notierten einen Tadel – und im Zeugnis den Vermerk „N“ („Not satisfatory“)… Ob genau daraus ein für jenes Alter nicht ungewöhnliches „jetzt erst recht!“ resultierte, sei einmal dahingestellt. Tatsache ist, dass Jeremy Steig und Eddie Gomez noch heute miteinander spielen. Jazz.
Ihre professionelle Zusammenarbeit beginnt Anfang der sechziger Jahre. Steig gründet 1962 Jeremy & The Satyrs, eine der allerersten Gruppen, wenn nicht gar die erste, die das praktiziert, was alsbald unter dem Begriff „Jazzrock“ firmiert. Die Protagonisten sehen sich damals nicht nur als Pioniere: „Wir entschieden, dass wir den Jazzrock erfunden hatten. Natürlich waren fünfzig andere Leute zur gleichen Feststellung gekommen.“ Einer der Satyrs: Eddie Gomez.
Nicht nur die Szenen des Jazz und des Rock sind sich in jenen Jahren sehr nah, insbesondere in New York. Auch Vertreter des Blues, Soul, Pop und Folk heißen die des Jazz willkommen. „To sit in“, bei Musikern einzusteigen – ganz gleich, welcher Stilistik -, gehört zu Steigs Alltag, sei es bei Junior Wells, Johnny Winter, Jimi Hendrix, Tommy Bolin, Bob Dylan, Richie Havens, Tim Hardin oder Yoko Ono.
In einem Fall wird jenes „sitting in“ zu einer bemerkenswerten Tradition: Jedes Mal, wenn der Pianist Bill Evans mit seinem Trio in New York auftritt, steigt Steig im letzten Set ein – und das zehn Jahr lang (gelegentlich kommt der Satyrs-Keyboarder Warren Bernhardt gleich mit auf die Bühne, was der introvertierte Evans als willkommene Gelegenheit nutzt, sich schon einmal in die Ruhezone der Garderobe zurückzuziehen). Der Bassist des Trios – und das für insgesamt elf Jahre: Eddie Gomez. 1969 nehmen alle vier das Album What’s New auf.
In den Siebzigern zieht es Steig immer häufiger nach Europa. 1974 taucht er auf dem Album Mama Kuku der Gruppe Association PC als Gast auf und spielt u.a. ein Duo mit Joachim Kühn. 1976 findet die musikalische Freundschaft mit Eddie Gomez in ihrer pursten Form auch auf der Bühne statt: Die Beiden gastieren zu zweit in Bremen (dokumentiert auf der LP Outlaws). Es sind Jahre, in denen akustische Kleinstbesetzungen eine gewisse Popularität erlangen, begünstigt durch den zunehmend pompöser werdenden und nunmehr unter dem Begriff „Fusion“ operierenden Jazzrock (Steig nimmt 1970 mit Jan Hammer, Don Alias und Gomez ein Album namens Fusion auf, als der Terminus noch längst nicht etabliert war). Alsbald ist nicht nur von der „Kunst des Solos“, sondern auch von der „Kunst des Duos“ die Rede. Gomez hatte bereits 1974 ein Duo mit Bill Evans eingespielt, viele weitere sollten folgen, vorzugsweise mit Pianisten: Cesarius Alvim, Joanne Brackeen, Giorgio Gaslini, Carlos Franzetti, Carsten Dahl, Masao Nakajima, Mark Kramer. Steig trat kurz vor dem Bremer Konzert mit Richie Bereich in einen improvisatorischen Dialog, später mit Vic Juris und Leanne Ledgerwood.
Ist die Kombination von Flöte und Bass für Steig und Gomez allein schon aus ihrer historischen Perspektive nichts Extraordinäres, ist sie es für Veranstalter, Publikum und Produzenten umso mehr. Und ein Album wie Music for Flute & Double-Bass ein absolutes Novum. Während Steig drei Mitglieder der Flöten-Familie um sich schart, „beschränkt“ sich auch Gomez auf seine Allerliebsten und präsentiert drei Schmuckstücke seines instrumentalen Großbesitzes: einen deutschen Bass aus den 30ern, einen tschechoslowakischen von der Jahrhundertwende und einen holländischen aus dem Jahr 1700 (dass er sie wenn nicht „beim Namen“ nennt, so doch Baujahr und Herkunftsland erwähnt, könnte man als augenzwinkernden Kommentar zu einer zur Hoch-Zeit des Jazzrock vor allem bei Keyboardern beliebten Praxis interpretieren – nämlich die einzelnen Marken ihres Tastenarsenals akribisch aufzulisten. Allerdings schließt sich Steig ihnen an, indem er neben den drei Flöten auch seine Geräte zur elektronischen Verfremdung detailliert anführt. Well, those were the days…).
Konsequenterweise erklingen nicht zur zwei Instrumente – auch dank der Technik des overdubbing. Steig hatte schon früh Zuhause begonnen, im Alleingang regelrechte „flute bands“ aufzunehmen, bei denen diverse Flöten melodische, harmonische, rhythmische und Bass-Funktionen übernehmen. Und auch Gomez ist mit Ostinato-Figuren zu hören, über die er gleichzeitig soliert. Wie Beide unplugged klingen, davon konnte sich wenige Wochen vor der Studioaufnahme das Publikum bei den Berliner Jazztagen einen Eindruck verschaffen. Bislang unveröffentlichte Ausschnitte aus diesem Konzert sind auf dieser Collectors Premium Jazz-Ausgabe als bonus tracks zu hören.
Vierzehn Monate nach Music for Flute & Double-Bass geht das Duo erneut ins Studio, diesmal mit harmonischer Begleitung (Piano spielt Mike Nock und Gitarre der damals in New York lebende Österreicher Karl Ratzer, der 1977 eine Band mit Steig und Gomez gegründet hatte) und rhythmischer Unterstützung (Steve Gadd, Jack DeJohnette, Nana Vasconcelos und Ray Barretto). Im Albumtitel Rain Forest mag ein Hauch Ethno und Öko mitschwingen. Tatsächlich bedient sich Steig neben neuen Techniken und elektronischen Hilfsmitteln auch außereuropäischen Stilelementen, um das Klang- und Ausdrucksspektrum zu erweitern. Die Fusion mit nicht-westlichen Idiomen war en vogue (übrigens: Jeremy Steig lebt seit 2010 in Japan und führt auf seiner Webseite eine Rubrik namens „Nature with Jazz“). Manch Ätherisches wirkt esoterisch (und denkt man an Yusef Lateef, Paul Horn, Charles Lloyd oder Chris Hinze, könnte sich der Eindruck aufdrängen, Flötisten seien in dieser Hinsicht besonders empfänglich). Für Momente scheinen selbst die psychedelischen Endsechziger noch einmal zurückzukehren und der synästhetisch Begabte in der Lage zu sein, fluoreszierende Farben auszumachen. Ein Titel könnte heutzutage gar als smooth jazz durchgehen. Ansonsten aber zeigen sich Beide durch und durch geerdet. Was Steig und Gomez schon zu Zeiten von Jeremy & The Satyrs pflegten, demonstrieren sie auch hier: ihre Liebe zum Blues und Groove.
Ab Mitte der 80er Jahre wird es zunehmend ruhiger um den Flötisten, der Bassist aber bleibt und ist bis heute konstant aktiv. Ihre Zusammenarbeit haben sie immer mal wieder aufgefrischt, auch auf Tonträgern (Uptown Music, 1998, Dedication, 1998, und What’s New at F, 2004).
Die für das deutsche Label CMP aufgenommenen Alben Music for Flute & Double-Bass und Rain Forest sind klingende Dokumente ihrer Zeit. Und Zeugnis einer Freundschaft zweier Künstler, die sich musikalisch und, ja, altersmäßig sehr nahe stehen. Etwas, das man über Größe, Form, Tonlage und Alter ihrer Instrumente nicht sagen kann…
– Karsten Mützelfeldt –
Tracklisting:
CD 1 (Music For Flute & Double Bass):
1. Aracelis 08:00
2. Nein-Four 02:57
3. Steigmatism 03:07
4. 7:11 05:07
5. Voyage of the Elves 10:12
6. Space Shuttle 01:57
7. Mezmerized 03:10
8. Vamp's Bite 03:18
Bonustrack:
9. Nein-Four (Live) 04:18
CD 1 Total: 42:06
CD 2 (Rain Forest):
1. Dugnafield 06:20
2. Rhomb Line 06:02
3. Sacrifice 06:47
4. Rain Forest 04:48
5. Amazon Express 03:15
6. Rosa 03:44
7. Carnival Sonata 09:38
Bonustrack:
8. Flute Bass Blues (Live) 05:51
CD 2 Total: 46:25